geschichte
- Geschichtliche Entwicklung des Stadtteils Eversten -

Eversten - 80 Jahre Stadtteil von Oldenburg - Betrachtungen zur Geschichte einer Wechselbeziehung


Heinrich Schmidt (2004)

Eversten - 80 Jahre Stadtteil von Oldenburg - Betrachtungen zur Geschichte einer Wechselbeziehung
Eversten, Oldenburg und ihre historische Wechselbeziehung: ein stadtgeschichtliches Thema, an dem der Historiker, der sich mit ihm befaßt, wie an jedem anderen seiner Themen, wissenschaftliche Sachlichkeit zu bewahren hat. Wenn er selbst nun freilich, wie etliche tausend andere Menschen, samt seiner Familie in Eversten wohnt und von hier aus bemüht ist, sich als Oldenburger zu „verwirklichen"; dann ist auch er persönlich in jene Wechselbeziehung verwoben, hat er, aktiv wie passiv, seinen kleinen, unmittelbaren Anteil an ihr, nimmt er sie in den Horizonten seines eigenen Selbstverständnisses, seiner individuellen Erfahrungswelt wahr - nun immerhin seit dreieinhalb Jahrzehnten, Er redet also, in einem gewissen Grade jedenfalls, auch über sich selbst, wenn er über Eversten und Oldenburg und ihre Wechselbeziehung spricht - und ich sehe auch gar keinen sachlichen Grund, warum er dies nicht tun sollte. Zunächst allerdings- um mit dieser subjektiven Erfahrung zu beginnen -, in den Anfängen unseres Wohnens in Eversten, habe ich jene Wechselbeziehungen gar nicht wahrgenommen, schon deswegen nicht, weil ich Eversten als eigene historische Identität noch nicht zur Kenntnis nahm. Wir zogen Anfang November 1969, von Hannover kommend, in eine Wohnung an der Hundsmühler Straße ein, und natürlich zogen wir dabei nach Oldenburg, nicht etwa nach Eversten. Eversten war uns bestenfalls ein geografischer Hilfsbegriff, mit dem wir etwas genauer beschreiben konnten, wo in Oldenburg wir denn nun wohnten. Mit seinem Gebrauch so etwas wie eine spezifische, im Verhältnis zum übrigen Oldenburg differenzierende Zugehörigkeit zu verbinden, kam uns nicht in den Sinn - wie denn auch, da wir doch keine Vergangenheit hier hatten, keine Gräber auf dem Friedhof, keine Vorfahren, von denen uns eine lokale Identifizierung zugewachsen wäre.

Wir waren in Oldenburg zugewandert, nicht in Eversten, und wenn ich die historische Identität unseres neuen Wohn- und Lebensortes zu ergründen suchte, dann bewegten sich meine Gedanken, meine Bemühungen vor allem zwischen Oldenburger Schloß und Gertrudenfriedhof und möglichst innerhalb der Wallanlagen, keineswegs aber rechts und links von Hauptstraße und Edewechter Landstraße. Oldenburg - das alte, städtische Oldenburg - war nicht hier draußen, sondern dort, um die Lambertikirche und die Heiligengeistkapelle mit ihrem „Lappan" zu finden: eine Bürgersiedlung im Schatten der Grafenburg, der regionalen Herrscherresidenz, auf die sie bezogen blieb bis in die Neuzeit hinein. Dort, nördlich des Schlosses, konzentrierte sich bis gegen 1800 die städtische Existenz, die den Namen der Grafenburg, des Grafenhauses übernommen hatte, und von dort gingen dann im 19. Jahrhundert jene Wachstumsentwicklungen aus, in denen das städtische, bürgerliche Leben Oldenburgs seine Straßen, seine Siedlungsräume nach allen Seiten in sein Umland hinein vortrieb, um mit ihnen schließlich auch, erst recht im 20. Jahrhundert, seine nächste bäuerliche Nachbarschaft zu überwuchern. Die nächste bäuerliche Nachbarschaft: bis weit in das 19. Jahrhundert hinein lebte sie in ihren wirtschaftlichen und sozialen Strukturen und in ihren rechtlichen Verhältnissen noch in deutlicher Distanz zu der Bürgerschaft an Hunte und Haaren. Gewiß war deren Nähe, die Möglichkeit, auf den städtischen Märkten und wohl auch an den Haustüren der Bürger Produkte der bäuerlichen Arbeit absetzen zu können, für die kleinen ammerländischen Siedlungen nordwestlich und nordöstlich von Oldenburg, Ofen und Wehnen zum Beispiel, Wechloy und Metjendorf, Etzhorn, Ohmstede, Donnerschwee, seit dem späten Mittelalter von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Auch gehörten sie zum Kirchspiel von St. Lamberti; ihre Bewohner mußten nach Oldenburg zur Kirche gehen. Die Stadt lag gewissermaßen schon innerhalb ihrer Existenzhorizonte, doch ohne deswegen ihren dörflichen Charakter antasten oder gar verändern zu können. Auch wer in Eversten wohnte, war für seine religiösen Bedürfnisse auf die Lambertikirche angewiesen. Doch wer wohnte schon im mittelalterlichen Eversten? Die Landschaft westlich des alten Oldenburg - Moor, Sumpf, nasse Niederung - ließ eine geschlossene dörfliche Siedlung nicht zu. Wir wissen denn auch nur von einer oldenburgischen Burgmannenfamilie, Ministerialen der Grafen von Oldenburg, die hier bis in das späte 15. Jahrhundert Besitzrechte hatte und wohl auch ansässig war. Sie nannte sich in den Urkunden, in denen sie seit 1218 bezeugt ist, „die Eversen", „van Everse"; von Eversten. Vielleicht hat unser Ort seinen Namen von ihr übernommen; wahrscheinlicher ist, daß sie sich nach ihm benannt hat. Doch wissen wir nicht, wo in Eversten sie ihren Wohnsitz hatte. So lange klare archäologische Hinweise fehlen, läßt sich auf diese Frage nur mit Vermutung antworten. Nachhaltige Spuren hat sie in der Everster Ortsgeschichte nicht hinterlassen - abgesehen natürlich von dem Ortsnamen, mit dem sie sich identifizierte. Er überlebte sie; aber das Gebiet auf das er sich bezog, blieb doch auch im 16,, im 17. Jahrhundert - in der sogenannten „frühen Neuzeit" - noch weitgehend siedlungsleer. Erst gegen 1700 kam hier eine lebhaftere Besiedlung in Gang, Sie verteilte sich - so hält Georg Bredehorn in seinem für die Everster Siedlungsentwicklung höchst informativen Buch über das alte Eversten fest - vom südlich der Bloherfelder Straße und Östlich des Lerigauwegs bis an Autobahn und nördliche Hundsmühler Straße (wobei diese Straßennamen natürlich noch unbekannt waren). Punktuelle Ansiedlungen, die sich an einigen Stellen, so im Kreuzungsbereich von Hauptstraße, Edewechter Landstraße, Eichenstraße, etwas dichter konzentrieren, insgesamt aber doch ohne ein örtliches Zentrum blieben. Dörfliches Zusammengehörigkeitsbewußtsein kann sich da nur erst sehr allmählich ausgebildet haben.

Eversten unterschied sich in Siedlungsbild und innerer Bindung von den meisten bäuerlichen Siedlungen im Stadtoldenburger Umland. Sie hatten sich an ihren alten, dörflichen Ackerfluren konzentriert, mit Ortskernen, die mindestens bis in das hohe, zum Teil weiter ins frühe Mittelalter zurückreichten: Bauerschaften, die von der Größe, der Qualität ihrer Höfe her diesen Namen wirklich verdienten. Eversten hatte keine geschlossene Ackerflur, keinen „Esch", von dessen Bewirtschaftung Integrationswirkungen hätten ausgehen können. Die „Kötner" und „Brinksitzer", die sich hier ihre Wirtschaftsflächen weitgehend aus dem Moor ergraben mußten, brachten es nur vereinzelt zu existenziell tragfähigen Hofgrößen. Vielfach waren sie auf Nebenverdienste angewiesen, zumal über die Torfgräberei und den Verkauf Torf. Doch kamen sie oft aus den Schulden nicht heraus. Nicht selten mußten sie, auch im 19. Jahrhundert noch, aufgeben und ihre Anwesen verkaufen - auch an städtische Käufer, die dabei hofften, günstig Geld anlegen zu können, aber dann doch auch nur geringe Mieten fordern konnten. So blieb das Leben in Eversten besonders für mittellose Leute, Tagelöhner, Torfarbeiter attraktiv - was das Grau der Armut, das über dem Ort lag, noch mehr verdichtete. Eine der zusätzlichen Verdienstmöglichkeiten war für Fuhrwerksbesitzer die Abfuhr des Inhalts städtischer Kloaken, der dann als Dung genutzt werden konnte; das südliche Eversten zog sich daraus den nicht gerade schmückenden Namen „Schiet-Eversten" zu. Eine Art Symbolbegriff; er wetterleuchtete wohl noch nach, als der Neuankömmling aus Hannover 1969 einem Freunde mit älteren Oldenburg-Erfahrungen freudig mitteilte, er werde an der Hundsmühler Straße eine Wohnung beziehen, und als trockene Reaktion darauf hören mußte: „Da wohnt man eigentlich nicht". Eversten war keine „gute Gegend", auch nicht im Rahmen der sogenannten „Landgemeinde Oldenburg", die seit 1814 die ländlichen Gebiete des Oldenburger Lamberti-Kirchspiels zu einer örtlichen Verwaltungseinheit zusammenfaßte. Ein aus den Traditionen der alten „Hausvogtei" Oldenburg und des Kirchspiels erwachsenes, aber strukturell doch recht uneinheitliches Kommunalgebilde; dem Rückblick will es scheinen, als hätten Abgründe von Fremdheit und Verständnisferne die alten, in sich gefestigten Bauernschaften im Norden der Gemeinde mit ihrer soliden bäuerlichen Honoratiorenschicht von den, alles in allem, armseligen Verhältnissen zwischen Wildenloh und Everstenholz getrennt. Diese beiden Welten und die sie beherrschenden Mentalitäten paßten einfach nicht zueinander; sie lagen nicht innerhalb gleicher Existenzhorizonte. Wechselseitige Zusammengehörigkeit, verbindende gemeindliche Solidarität konnte sich da nicht entwickeln. Da die Armenfürsorge Sache der Gemeinden war, Eversten aber an Steuerkraft weit zurückblieb, lebten die alten Bauernschaften in dem Bewußtsein, die Everster Armut drücke ihnen über die Maßen und ganz ungebührlich auf die Taschen. Am liebsten hätten sie den armen Gemeindeteil sich selbst überlassen. Doch scheiterten sie im mittleren 19. Jahrhundert noch mit ihren entsprechenden Trennungsanträgen, Ein Mentalitätsgraben zog sich damals nicht nur quer durch die Landgemeinde Oldenburg; er distanzierte auch noch die bäuerliche Sphäre allgemein von der Stadt, jedenfalls von den Kreisen, die dort das Sagen hatten - herzoglichen Beamten und bürgerlichen Honoratioren aus gehobenem Handel und besser verdienendem Handwerk. Daß Bürger außerhalb ihrer Stadtmauern, seit dem 16. Jahrhundert vereinzelt auch im Gebiet von Eversten Landstücke nutzten, widersprach dem durchaus nicht Wer mit bürgerlichem Selbstgefühl im Bereich des Stadtrechts lebte, war noch fern davon, sich mit Bauern, geschweige denn mit irgendwelchem Gesinde auf gleicher Standesebene zu wissen. Die sozialen Weiten lagen in Distanz zueinander - was natürlich nicht ausschloß, daß man von der Stadt her seit dem 17. Jahrhundert begann, in dem siedlungsleeren Gelände vor dem „Everstentor" Vergnüglichkeiten zu suchen. Die „Herrschaft" ging damit voran; Graf Anton Günther ließ östlich des Everstenholzes einen barocken „Lustgarten" anlegen, den wir leider nur aus der schönredenden Be-schreibung des landesherrlichen Historiographien Johann Just Winkelmann kennen. Die Anlage verfiel seit dem Tode des Grafen nach und nach. Auch das Everstenholz und der südlich angrenzende „Fasanenkamp" sowie der „Weinhof" beiderseits der heutigen Wienstraße waren herrschaftliches Gelände - größtenteils unmittelbar wirtschaftlich genutzt, kleineren Teils an bürgerliche Nutzer ausgetan. Im späteren 18. Jahrhundert kam dann das Everstenholz für die höfische Gesellschaft und die betuchteren Bürger in Mode, Seine Wege wurden zu einem „Stern" geordnet, in dessen Zentrum man - allerdings nur im Juli - importiertes Brunnenwasser zu sich nahm und hin und her spazierte, umtönt von musikalischen Darbietungen, um zu sehen und selbst gesehen zu werden: hochsommerliche, frühmorgendliche Rendezvous' unter älteren und jüngeren Eichenbäumen. Dergleichen gehobene Open-air-Geselligkeit verlor sich später wieder, zumal, nachdem Herzog Peter Friedrich Ludwig seinen Schloßgarten hatte fertigstellen lassen. Doch blieb das Everstenholz während des ganzen 19. Jahrhunderts ein gern aufgesuchter Freizeitraum für Reiter und Spaziergänger. Die Gartenstraße längs des Schloßgartens entwickelte sich derweil, gewissermaßen in Korrespondenz zum herzoglichen Park, zu einer Linie des vornehmen Wohnens, die sich punktuell, mit einigen klassizistischen „Landhäusern", an der Hauptstraße gegenüber dem Everstenholz fortsetzte. Auch das Haus der „Clubgesellschaft Vereinigung" - gar mit Ansatz zu einem „Zoologischen Garten" - diente hier, seit Mitte des 19. Jahrhunderts, dem Vergnügen „besserer Kreise“.

Eine vorübergehende Erscheinung; aber der Ausgriff städtischer Interessen und Lebensformen auf das alte Eversten gewann jetzt an Intensität und verändernder Kraft. Die Stadt selbst veränderte sich mehr und mehr. Ihr anhaltender Bevölkerungszuwachs seit den Jahren um 1800 drängte das städtische, bürgerliche Leben - zunächst allmählich, bald immer lebhafter - über den alten Wallring hinaus. Dies vollzog sich in Wechselbeziehung zu einem - nach oldenburgischer Weise eher verhaltenen als stürmischen - Wandel der bürgerlichen Orientierungswerte. Man mußte nicht mehr hinter Stadtmauern (in Oldenburg zuletzt: hinter Festungsmauern} und in genossenschaftliche Zusammenhänge - spezifisches Bürgerrecht, Gilden und Zünfte - eingeboren leben, um als Bürger mit sich selbst identisch zu bleiben. Eine Grundtendenz zur Individualisierung, zu individueller Bewegungsfreiheit Selbstbestimmung, Leistung, verbunden mit einem zunehmenden Bedürfnis, die Sphären des privaten Lebens, der Arbeitswelt, der Öffentlichkeit voneinander zu trennen, löste die älteren Bindungen des Denkens und Verhaltens mehr und mehr auf, Darüber wuchsen geistige, soziale, persönliche Mobilität; darüber konnte sich freilich auch die Identifizierung mit der heimatlichen Stadt lockern. Doch zunächst erweiterte diese Stadt ihren Existenzraum. Seit dem mittleren und späten 19. Jahrhundert verließen immer mehr Familien die Häuser innerhalb des Walls, in denen ihre Vorfahren gelebt hatten, und zogen nach draußen - wenn sie vornehmer oder wohlhabender waren, vor allem ins Dobben- und Haareneschviertel, hatten sie weniger Geld, dann in das noch geraume Zeit außerhalb des Bürgerrechts liegende sogenannte „Stadtgebiet" nördlich des Heiligengeistwalls. Ähnlich verteilte sich der Zuzug in die Stadt: Rentiers aus der Wesermarsch bauten zwischen Gartenstraße/Haareneschstraße; „kleine Leute" suchten ihr Wohnen im „Bürgerfeld" oder im sich industrialisierenden Nachbarort Osternburg. Die Entwicklung erreichte, durchdrang, veränderte schließlich auch die „Landgemeinde Oldenburg", tastete aber zunächst noch nicht ihre rechtliche Eigenständigkeit an. Das alte, mittelalterlich-frühneuzeitliche Oldenburg indes verlor Zug um Zug seinen überkommenden Charakter. Es wandelte sich von der bewohnten Stadt zum Einkaufszentrum für Menschen, die außerhalb seines - was die Straßenzüge betrifft - noch mittelalterlichen Zusammenhanges lebten. Ein neues Oldenburg entstand, nach seiner Ausdehnung, aber auch in den Lebensformen, den Mentalitäten, dem Selbstverständnis seiner Einwohner eine Stadt, die mit dem alten Oldenburg der Jahrhunderte vor 1800 nur noch dem Namen nach identisch war. Ohne diesen strukturellen Wandel hätte auch unser Eversten nie wirklich mit Oldenburg vereinigt werden können. Gegen 1900 hatte das stadtoldenburgische Wachstum die nordöstlich gelegenen Bauernschaften wie Donnerschwee, Nadorst, Ohmstede schon weitgehend überformt. Doch hielt der Bewußtseinswandel mit dieser Entwicklung nur zögerlich Schritt; standen auf beiden Seiten, bei den Bürgern wie in den „Dörfern", Vorbehalte gegeneinander und damit gegen die Eingemeindung. Vielleicht spielte in der Landgemeinde - wie später in Osternburg - auch die Angst vor höheren Steuern eine retardierende Rolle. Aber noch immer gab es zwischen Bürgern und ländlicher Bevölkerung auch grundsätzlichere Abneigung gegen eine kommunale Verbindung von Dorf und Stadt - selbst noch zu einer Zeit, als einige Dörfer längst dabei waren, sich im städtischen Wachstum aufzulösen. Mentalitäten sind den handgreiflichen Tatsachen durchaus nicht immer voraus. Zu den Tatsachen aber gehörte, daß in den stadtnahen Bauerschaften immer mehr Menschen lebten, die ihre Arbeitsplätze in der Stadt hatten, ihre Einkäufe, zunehmend auch für den Alltagsbedarf, dort erledigten und für den Verkauf eigener Produkte auf städtische Kunden angewiesen waren. Die „Landgemeinde Oldenburg" wurde 1897 endlich, dem Wunsch ihrer reicheren Bauerschaften gemäß, geteilt: in eine Gemeinde Ohmstede und in die - auch Metjendorf, Wehnen, Ofen, Petersfehn, Friedrichsfehn umfassende, immer noch weit überdehnte - Gemeinde Eversten. Für die eigentliche Bauerschaft Eversten - ein Begriff, der hier, zeitlich und strukturell gesehen, nur eine sehr dürftige historische Tradition hatte - für dieses engere, eigentliche Eversten also hatte sich inzwischen, im Bereich der westlichen Hauptstraße und des östlichen Anfangs der Edewechter Landstraße, so etwas wie ein Ortszentrum angedeutet; zunächst, gegen Mitte des 18. Jahrhunderts, mit dem ersten Everster Schulbau, stärker noch akzentuiert dann durch den Kirchenbau von 1902: die heutige Ansgarikirche, Von beiden Einrichtungen, vorerst und für lange Zeit allein von der Schule, endlich auch, schon in seiner Phase des fortschreitenden Übergangs zu städtischen Lebensformen, von der Kirche, ging eine gewisse Integrationskraft aus, Aber die Zeiten, da die Kirche noch als der zentrale Bezugspunkt allen öffentlichen Lebens in der dörflichen Kirchspielgemeinde fungierte, waren Anfang des 20. Jahrhunderts vorbei. Ansgari ist aus Eversten nicht mehr wegzudenken, aber eine Dorfkirche, die als Mittelpunkt eines gleichsam in sich selbst ruhenden Dorfbildes dessen gesamte Existenz zusammenband und mit ihrem Glockengeläut akustisch überwölbte, konnte es von vornherein nicht mehr sein; dazu fehlten ihm die Voraussetzungen in der Everster Siedlungsstruktur ebenso wie in der geistigen Zeitlage.

Eversten, in seinen weitgehend moorigen Anfängen ein ziemlich ungeordneter Siedlungsraum, taugte nun einmal nicht zur dörflichen Idylle, und als es endlich seine eigene Kirche erhielt, taugte auch die Zeit nicht mehr dazu. Um 1900 waren die verstädternden Wirkungen der „industriellen Revolution" im lebhaftesten Begriff, die dörflichen Welten zu durchdringen - am auffälligsten, naturgemäß, an den Rändern der wachsenden, expandierenden Städte. Das städtische Bedürfnis nach Eingemeindungen spiegelte diese Entwicklung auf seine Weise wider. Es regte sich in Oldenburg schon seit 1820, anfangs allerdings nur verhalten und ohne schon eine breite Basis in der Bürgerschaft zu haben, und es richtete sich zunächst, Mitte des 19, Jahrhunderts, vor allem nach Süden, gegen Osternburg, und nach Norden, auf das sogenannte „Stadtgebiet". Osternburg konnte widerstehen - bekanntlich bis 1922. Der westliche Teil der „Landgemeinde Oldenburg", seit 1897 „Gemeinde Eversten", war für oldenburgische Ausdehnungsbestrebungen erst in Grenzen - und je westlicher, umso weniger - attraktiv. Hier mußten sich die städtischen Orientierungen in der wachsenden Bevölkerung - wirtschaftlich gesehen, aber vor allem auch in den Lebensformen, den Selbstverständnissen der Menschen - stärker verbreitet, tiefer eingeprägt haben, damit Oldenburg und Eversten, auch ihren Mentalitäten nach, näher aneinanderrücken konnten. So etwas wie eine Brückenfunktion oder ein Symbolcharakter kam dabei der mittleren Hauptstraße zu, an der sich um 1900 städtisches Leben und Wesen - in oldenburgischen Erscheinungsformen, also eher unaufdringlich -verdichtete und die sich allmählich anschickte, eine Art von lokaler Lebensachse zu werden. Verstädterung freilich, wie sie Eversten an der Wende zum 20. Jahrhundert immer offensichtlicher erfaßte, mußte in der betroffenen Bevölkerung nicht von vornherein schon gleichbedeutend mit dem Wunsch nach Eingemeindung in Oldenburg sein. Man konnte die Nähe der eigentlichen Stadt und ihre Vorzüge als wirtschaftliches und kulturelles Regionalzentrum schließlich auch genießen, ohne sich den höheren städtischen Steuerforderungen ausliefern zu müssen. So jedenfalls vor 1914. Andererseits wuchs auch in Eversten das Bedürfnis nach Teilhabe an den Errungenschaften städtischer, kommunaler Zivilisation: Ausbau von Straßen und Wegen, moderne Straßenbeleuchtung, überhaupt Verbesserung, größtenteils überhaupt erst Einführung von Elektrizitätsversorgung, Wasserleitung, Kanalisation, Förderung und Differenzierung des örtlichen Schulwesens und dergleichen Modernitäten mehr - Fortschritte, die eine an Einkünften arme Gemeinde kaum schon finanzieren konnte, erst recht nicht in den wirtschaftlich zerrütteten Verhältnissen nach dem Ersten Weltkrieg, Der Wunsch, intensiver von jenem allgemeinen Fortschritt erfaßt zu werden, der aus den Städten kam, relativierte auch in Eversten die älteren Vorbehalte gegen eine Eingemeindung in Oldenburg, erschloß also auch diese - von Oldenburg aus gesehen - Vorortgemeinde der stadtoldenburgischen Ausdehnungspolitik. Sie hatte inzwischen neuen Schwung, neue Intensität gewonnen: seit nämlich, 1921, Theodor Goerlitz zum Oldenburger Oberbürgermeister gewählt worden war. Dieser hervorragende und tatkräftige Verwaltungsfachmann hatte die, wie er selbst formulierte, „Eingemeindung der Vororte" zu einem der großen Ziele seiner Oldenburger Amtsführung gemacht. Die Eingemeindung Osternburgs, 1922, wurde sein erster Erfolg; Eversten folgte am 1. August 1924. Goerlitz orientierte sich dabei ganz und gar am Interesse seiner Stadt; so wollte er, unter anderem, die in seinen Augen „unerfreuliche Erscheinung" beseitigen, daß „städtische Steuerzahler" sich immer häufiger in „selbständigen Vororten ansiedeln und der Stadt verloren gehen". Der wirksamste Gegenzug war dann eben, jene „selbständigen Vororte" mit Oldenburg zu vereinigen.

Doch war dies eher ein Nebeneffekt seiner Eingemeindungspolitik. Goerlitz betrieb sie mit einem weiten Blick in die Zukunft. Am Tag der Eingemeindung Everstens veröffentlichte er in den Oldenburger „Nachrichten für Stadt und Land" einen Artikel zu diesem Ereignis, den er wahrscheinlich selbst verfaßt jedenfalls aber mit seinem Namen autorisiert hatte, der also seine Sicht der Dinge darstellt. Er rückt sie ganz in die oldenburgische Perspektive. Die Eingemeindung von Osternburg und jetzt nun von Eversten sieht er als Schritte „auf dem Wege, aus dem wirtschaftlichen zusammengehörenden, tatsachlich aber zerrissenen Gebilde von Stadt und Vororten einen einheitlich verwalteten Stadtkörper ... zu schaffen". Ältere Versuche, dieses Ziel zu erreichen, seien jeweils von „Privatinteressen, die dem öffentlichen Interesse vorangestellt wurden, ... durchkreuzt" worden. Eine bezeichnende Begriffswahl: Das „öffentliche Interesse" definiert sich allein von Oldenburg her; was ihm entgegenstand, waren - auch im 19. Jahrhundert schon - „Privatinteressen" und damit bloßer, dem Gemeinwohl schädlicher Egoismus. Kein Gedanke daran, daß in Osternburg und den Bauerschaften der alten „Landgemeinde" ganz andere Vorstellungen von „öffentlichem Interesse" geherrscht haben könnten, Vorstellungen, mit denen man sich einst gegen den oldenburgischen „Eingemeindungsgedanken" abzugrenzen und die jeweils eigene, aus der Vergangenheit überkommene Identität zu bewahren versucht hatte. Goerlitz dachte, wenn er auf die Nachbargemeinden außerhalb der alten Oldenburger Stadtgrenze blickte, nicht in historischen Dimensionen. Schon indem er sie nurmehr als „Vororte" begriff, macht er deutlich, daß er sie von vornherein der Stadt und ihrem Interesse zuordnete. Dabei verallgemeinerte er die Situation seiner eigenen Oldenburger Jahre, die längst unübersehbare wirtschaftliche und soziale Verflechtung der „Vororte" mit der Stadt, das Ergebnis einer seit dem späten 19. Jahrhundert beschleunigten Entwicklung; er legte es, was einleuchtet, seiner sachlichen, aber eben auch seiner moralischen Bewertung zugrunde und stellte die Stadt mit ihren „Vororten" als ein „wirtschaftlich zusammengehörendes, tatsächlich aber zerrissenes Gebilde" dar, das nun also endlich, gewissermaßen um zu sich selbst zu finden, zu vereinigen sei. Ein „Blick auf den Plan der Stadt Oldenburg", würde, sagt Goerlitz weiter, Jeden Kommunalfachmann" die „unbedingte Notwendigkeit von Eingemeindungen ... erkennen" lassen. Eben: dieser oldenburgische Oberbürgermeister, seit 1921 erst in Oldenburg lebend, war Oldenburger als „Kommunalfachmann"; er orientierte sein Denken und Handeln an sachlich-fachlichen Prinzipien, die ihm primär nicht etwa aus den Traditionen seiner Stadt vorgegeben wurden, sondern aus den allgemeinen, beherrschenden Tendenzen seines Zeitalters. Wirtschaftliche Wachstumsdynamik hatte seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Städte mitgerissen und auch das Denken in den kommunalen Verwaltungen erobert; ihr hatte ein moderner, also guter Verwaltungsmann zu folgen. Von solcher Voraussetzung her war Goerlitz in Oldenburg gewählt worden. Die Stadt brauchte den „Kommunalfachmann" an ihrer Spitze, gleichgültig, wo seine Wiege gestanden hatte. Man mußte im 20. Jahrhundert nicht mehr heimatlich, nach Herkunft und Familie, in einer Stadt verwurzelt sein, um sie angemessen führen zu können; man mußte sein Fach beherrschen, um sie mit den Erfordernissen seiner sich wandelnden, sich modernisierenden Welt auf gleicher Höhe zu halten. Was für Oldenburgs Entwicklung notwendig war, hätte der „Kommunalfachmann" schon aus der Ferne, mit einem Blick auf den Oldenburger Stadtplan ausmachen können: Eingemeindungen. Die Erinnerung an irgendwelche historischen Identitäten wäre da nur hinderlich gewesen. Historische Identität bestätigte sich seit dem 19. Jahrhundert in der Veränderung - eine Erfahrung, welche die Dörfer am Rande der wachsenden Städte mit dem Verlust ihrer Eigenständigkeiten zu machen hatte.

Die Eingemeindung von Eversten würde Oldenburg allerdings - Goerlitz verschwieg dies nicht - zunächst einmal nur an Menschen (ca. 6500 Personen} und an Raum (fast 2500 Hektar) bereichern, der Stadt ansonsten aber „keinerlei finanzielle Vorteile" bringen. Natürlich nicht: die Gemeinde Eversten war arm und in vielen Hinsichten rückständig. Aber - so Goerlitz -: Eversten sei „Zukunftsland". Er hätte hier am liebsten das Gesamtgebiet der bisherigen Gemeinde, samt Friedrichsfehn, Petersfehn, Ofen und Wehnen, einbegriffen gesehen. Doch gegen die Absicht, Oldenburg soweit nach Westen hin auszudehnen, regten sich - erfolgreich - Widersprüche in den entfernten Bauerschaften ebenso, wie in der staatlichen Verwaltung. Die Stadt mußte sich am Ende mit einer kleineren Lösung begnügen. Sie umfaßte, außer dem engeren Eversten und Nordmoslesfehn, immerhin noch Bloherfelde und Wechloy und reichte nach Norden bis über das Alexandersfeld hinaus: „Zukunftsland" genug, mit reichlich Raum für die städtische Siedlungsexpansion. Um sie vor allem ging es dem wahrlich weitsichtigen Oberbürgermeister. Hoffnungen auf größere industrielle Entwicklungen in dem neuen Stadtteil machte er sich bestenfalls im Blick auf die südliche Hundsmühler Straße und den Küstenkanal, an dem gebaut wurde. In erster Linie aber scheint Goerlitz im Sinn gehabt zu haben, neue Bereiche für das städtische Wohnen zu erschließen. Selbstverständlich ging er dabei vom weiteren Bevölkerungswachstum seiner Stadt aus. Dessen Entwicklung mit einem angemessenen, soliden, an sozialen Bedürfnissen orientierten Wohnungsbau zu verbinden, war ein zentrales Bestreben seiner Amtsführung. So regte er schon in den ersten Monaten seiner Oldenburger Zeit die Gründung der Gemeinnützigen Siedlungsgesellschaft (GSG) in der Stadt an und fungierte als der erste Vorsitzende ihres Aufsichtsrates. Was ihm an Oldenburg, unter anderem gefiel, war das - nach seinen Worten - „erfreuliche Überwiegen des Einfamilienhauses und der daraus bedingten Wohnweise". Natürlich durfte sich moderner städtischer Wohnungsbau nicht nur auf Einfamilienhäuser beschränken; aber Goerlitz lag durchaus daran, diese oldenburgische Tradition, soweit es möglich war, fortzuführen. Sie erforderte naturgemäß ein ausgedehntes Baugelände: für einen Oberbürgermeister, der seine Stadt an Bevölkerungszahl vergrößern wollte, ohne darüber ihren Wohncharakter, ihre bürgerlichen Lebensformen preisgeben zu müssen, ein wesentliches Motiv für städtischen Raumgewinn. Goerlitz hielt die oldenburgische „Wohnweise" geradezu für „eine Notwendigkeit", um „Mietskasernen mit all ihren sozialen Schäden für die Dauer" am Orte auszuschließen. So schrieb er im August 1924, mit dem Blick auf Eversten; gedacht haben dürfte er dabei auch daran, dass „Mietskasernen" weit eher als Ein- oder Zweifamilienhäuser zu sozialistischen Gesinnungsnestern werden konnten. Goerlitz war Mitglied der linksliberalen „Deutschen Demokratischen Partei" und ganz und gar ein Mann der „Weimarer Republik" - auf bürgerlich-demokratische Weise. Mit dem Stichwort „Mietskasernen" verband er offensichtlich auch eine Vorstellung von erbärmlichen Wohnverhältnissen in wirtschaftlich, sozial und moralisch zerrüttender Not: Brutstätten des Hasses auf bürgerliches Eigentum und damit der auf drohenden Revolution. Oldenburg kannte noch keine wirklichen „Mietskasernen" und sollte sie auch nicht kennenlernen müssen: sicher ein wesentliches Motiv für die Eingemeindungspolitik seines Oberbürgermeisters. Er hatte offenbar die Vision von Eversten als einem großenteils von oldenburgischer „Wohnweise" erfüllten Bereich des sozialen Friedens in weitgehender sozialer Sicherheit, einen Raum der soliden gesellschaftlichen Ordnung. In diesem Sinne konnte er am 1. August 1924 die Eingemeindung preisen als einen Vorgang, durch den der Stadt „befriedigende Wohnverhältnisse für die Zukunft gesichert werden sollten". Es gehörte damals einiger Optimismus dazu, dergleichen Perspektive zu propagieren und es hat durchaus den Anschein, als habe Goerlitz damit auch bürgerlichen Vorbehalten, ja, Ängsten entgegenwirken wollen. Eversten - streckenweise immer noch, dem alten Vorurteil gemäß, „Schiet-Eversten" - war vorerst noch alles andere als ein kommunales Sahnestück. Überwiegend bestimmten sogenannte „kleine Leute" hier das soziale Bild. Innerhalb der größeren „Landgemeinde" war das engere Eversten der Ortsteil mit den meisten sozialdemokratischen Wählern; wohl auch aus diesem Grunde wollte Goerlitz die entfernteren Bauerschaften mit eingemeinden, um so die parteipolitischen Gewichte besser ausgleichen zu können. Noch waren die Sozialdemokraten - man muß dies heute wohl erklärend sagen - weit davon entfernt, als eine auch in „bürgerlicher" Sphäre akzeptable „Volkspartei" zu gelten. Manche Oldenburger befürchteten jedenfalls, die Eingemeindung von Eversten werde das sozialdemokratische Element in der Stadt gefährlich stärken, und hatten schon deswegen einen Widerwillen gegen sie: vielleicht in Fortsetzung jener älteren Vorbehalte, mit denen man einst von Oldenburg aus auf das ziemlich armselige kommunale Wesen jenseits des Everstenholzes geblickt hatte. Tatsächlich hielten sich dort bei den Stadtratswahlen der zwanziger Jahre Sozialisten und Bürgerliche einigermaßen, mit ganz leichtem bürgerlichen Plus, die Waage; in der Stadt Oldenburg dagegen - Osternburg nicht mitgerechnet - standen die bürgerlichen Parteien deutlich voran. 1930 trat dann hier wie dort, in Eversten mit 39,9% der Stimmen noch nicht ganz so machtvoll wie in der inneren Stadt mit 43,9%, jene neue, von rechts her aufsteigende radikale Bewegung auf den Plan, der die nähere Zukunft gehören sollte - mit welch schrecklichen Konsequenzen, konnte kaum schon jemand ahnen.

Der Anschluß Everstens an die kommunale Modernität, den die Eingemeindung mit Straßenbau, Kanalisierung, umfassenderer Elektrizitätsversorgung bringen sollte, zog sich hin; der Westen Oldenburgs blieb noch, alles in allem, für geraume Zeit unentdecktes „Zukunftsland": bis über 1945 hinaus. Erst das raschere Bevölkerungswachstum nach dem Zweiten Weltkriege, als auch unsere Stadt den Zustrom der „Ostflüchtlinge" zu verkraften hatte, zog Eversten in neue Siedlungsentwicklungen hinein - durchaus nicht nur im Sinne einer spezifisch oldenburgischen „Wohnweise", für die sich Theodor Goerlitz hier den weiten Raum erhofft hatte. Der elementare Zwang, Wohnraum zu schaffen, war wenigstens vorübergehend stärker als der alte Traum von oldenburgischer Wesensbestätigung in Einfamilienhäusern, und so entstanden auch in Eversten da und dort Wohnblocks, bedachtsam in stilisiertes Grün gesetzt und gewiß noch keine „Mietskasernen", wie etwa im Grenzbereich zu Bloherfelde (Stichwort: Kennedy-Viertel) oder westlich der Hundsmühler Straße - um nur auffälligere Exemplare zu nennen. Seit den späten sechziger, den siebziger Jahren nahm dann der Ausbau von Vierteln mit Einfamilienhäusern wieder zu; mit ihm wuchs der neue Ruf Everstens, ein beliebter, attraktiver Oldenburger Wohnbereich zu sein. Diese Entwicklung überblühte nun vollends alle älteren Vorbehalte, mit denen frühere Generationen von Oldenburg aus auf Eversten geblickt hatten. Dessen kleinbäuerliche Vergangenheit verschwand nahezu völlig aus den Augen. Die Everster Frühzeit, jene verstreute Kolonisten- und Arme-Leute-Identität, die das Erscheinungsbild des Ortes im 18. und 19. Jahrhundert bestimmte und wohl einigermaßen trostlos anmutete: sie hat sich bis auf dürftige Spuren verloren. In den Jahrzehnten um 1900 schoben sich überwiegend kleinbürgerliche Züge in sie ein, Vor- und Frühformen einer neuen, städtischer akzentuierten Identität, erkennbarer zwar noch in ihren Überresten, aber spätestens nach der Mitte des 20. Jahrhunderts doch auch wieder überlagert von einer neuen, den Stadtteilscharakter entscheidend verändernden Zeitschicht. Keine Erscheinungsform des geschichtlichen Lebens kann auf die Dauer mit sich selbst identisch bleiben und ein Everster Ansiedler von, sagen wir, 1750, dem die himmlische Autorität gerade heute, eine Stunde Urlaub von der Ewigkeit gewahrt hätte und der vielleicht nur einmal sehen wollte, wie sich denn die für ihn seinerzeit neue, 1746 erbaute, also die erste Schule seines Dorfes im Ortsbild darstellte: er würde nichts wiedererkennen, hilflos über die Hauptstraße irren und entsetzt an die Seite springen, um nicht vom Satansangriff ihres Autostromes überrollt zu werden. Erst auf dem - ihm natürlich auch völlig fremden - Friedhof könnte er sich wieder geborgen fühlen. Vielleicht, daß ihm hier auf einzelnen Grabsteinen - wenn er denn überhaupt zu lesen vermöchte - ein irgendwie vertrauter Familienname begegnen würde. Doch wäre dies eher unwahrscheinlich. Eversten hat sich ja nicht eigentlich von innen heraus erweitert und verändert - es lebt schon seit dem 19. Jahrhundert und erst recht im 20. Jahrhundert vor allem von der Zuwanderung. Und die neuen Zuwanderer wissen sich ganz selbstverständlich auch im Stadtteil Eversten als Einwohner von Oldenburg und begreifen auch Eversten zunächst einmal als ein Stück oldenburgischer Stadtidentität. So jedenfalls jener anfangs erwähnte, damals noch ein paar Jahrzehntejüngere Historiker, der 1969 mit seiner Familie von Hannover nach Oldenburg umzog, in die „Landesbedienstetenwohnung" an der Hundsmühler Straße, Man blieb in Eversten, auch mit dem alles in allem wohl gelungenen - Versuch, hier durch bescheidenen Eigentumserwerb heimischer zu werden. Heimisch in Eversten: in einer Sphäre also, für die der Anschluß an die städtische Zivilisation fraglose Normalität geworden war, ja: die mit den Modernitäten ihrer neuen Besiedlung der inneren Stadt mit ihren „Altbauten" in mancherlei Hinsicht überlegen schien - der vorherrschenden Tendenz gemäß, das bürgerliche Wohnen „nach draußen", ins Grüne zu verlagern, wie es die Bewegungsmöglichkeiten einer autofahrenden Gesellschaft problemlos erlaubten, Eversten lag um 1970 und liegt offenbar noch immer im Trend. Man wohnt dort durchaus - ich sehe die Situation primär von der Gegend nördlich und westlich des Hausbäker Weges her - in einer lebhaft und dank der Hausgärten auch farbig durchgrünten Umwelt, die sich noch wie selbstverständlich in Feldmark, Grünland, ländliche Weite öffnet und für Körper und Seele eine gewisse Bewegungsfreiheit, eine Art von kultiviertem Frische-Luft-Gefühl gewährt, ohne sie fremd gewordenen Dörflichkeiten auszusetzen; nur sehr vorübergehend kann sie zuweilen, wenn Regen heranzieht und dazu einlädt, Jauche auf einem nahe gelegenen Acker auszubringen, ländlich durchweht sein. Insgesamt eine erfreuliche, zutiefst friedlich anmutende Sphäre; an stillen Sommersonntagnachmittagen, wenn auch der neuerdings stärker befahrene Hausbäker Weg ruhig in der Sonne liegt, könnte man träumen, außerhalb aller Weltbegebenheiten, aller politischen, ideologischen, sozialen Konflikte zu leben. Eine Illusion, gewiß; aber sie ist in diesem Teile Oldenburgs, wie natürlich auch in anderen grünen Winkeln unserer Stadt, manchmal eben möglich.

Eversten ein Stück Oldenburg: niemand, der diese Tatsache heute, 80 Jahre nach der Eingemeindung, noch in Frage stellen würde. Das alte Eversten, wie es 1924 vor Augen stand und vielfach noch bis in die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg erkennbar blieb - „da wohnt man eigentlich nicht" -: dieser Ort ist weitgehend hinter den Erfahrungshorizonten seiner oldenburgischen Gegenwart verschwunden. Der Neu-Everster, der heute seinen kleinen Abendspaziergang um die „Tonkuhle" macht, nimmt die Kunde, daß in dieser Gegend, am südlichen Hausbäker Weg, an der Hundsmühler Straße, seit Ende des 19. Jahrhunderts und teilweise noch um 1950 Ziegeleibetriebe aktiv waren und das Erscheinungsbild bestimmten, wie eine Sage aus ferner Vorzeit zur Kenntnis. Die Gegenwart sieht anders aus: solider Wechsel zwischen ein paar locker gruppierten Wohnblocks und kleinen Straßenzügen mit Einfamilien- und Reihenhäusern in ihren schmalen Gärten, stilisierte Umwelt mit Grünbereichen und See, Platz zum feierabendlichen Atemholen - neues Eversten anstelle des alten. Ebenso ist die anrüchige Vergangenheit, das Müll-Gelände auf der Hundsmühler Höhe verschwunden; sie hat mit der aktuellen, vielfach durchgrünten Identität von Eversten nichts mehr zu tun. Die Erinnerungen an das alte Eversten verlöschen allmählich und müssen schon schriftlich festgehalten werden, wenn sie nicht ganz vergessen werden sollen; der weit überwiegend zugewanderten Bevölkerung des gegenwärtigen Eversten können sie nicht mehr als Identifizierungsbrücke dienen. Wie aber vollzieht sich, wenn die historischen Bindungslinien fehlen, Identifizierung mit einer lokalen Umwelt? Hausfrauen, Rentner, Kinder, heutzutage leider auch Arbeitslose haben eine andere, durchweg kontinuierliche Beziehung zu ihr als jemand, der sie erst in seiner Freizeit wahrzunehmen vermag. Doch auch ihn kann sicher schon die bloße Gewöhnung an sie in ein dauerhafteres Einverständnis mit ihr hineinziehen, Aber bloßes Einverständnis bleibt eher passiv; tiefere Identifizierung dagegen gibt sich erst in Aktivitäten deutlicher zu erkennen. Manche Menschen verzichten von vornherein auf sie; ihnen ist es gleichgültig, wo sie wohnen, wenn nur Fernsehen, Internet und die Müllabfuhr funktionieren, Andere wiederum suchen sich ganz bewußt zu identifizieren -vielleicht über die Nachbarschaft oder über Vereinszugehörigkeiten. Eine Vielfalt sozialer Verbindlichkeiten, ja, eine Freundschaften stiftende Kraft geht noch immer auch von Kirche und Kirchengemeinde aus. Doch haben auch die gemeindekirchlichen Bindungen meist nur selektiven; wenn man will, schwebenden Charakter; sie gelten ja nicht primär dem Ort, sondern finden ihre Mitte im Gottesdienst, bewirken also nicht unbedingt zugleich lokale Verwurzelungen. Lokale Identifizierung, welche die ganze Existenz erfaßt, kann sich vermutlich noch immer am ehesten dort ausbilden, wo sie von materiellen, geschäftlichen Bedürfnissen und Interessen ausgeht - bei Geschäftsleuten zum Beispiel oder bei Handwerkern, die auf Kundschaft aus dem „Viertel" angewiesen sind, deren Wechselbeziehung zu ihrer sozialen Umwelt nicht nur Freizeitangelegenheiten betrifft, sondern tatsächlich „die ganze Existenz1! Ihnen muß daher schon aus legitimstem Eigeninteresse an Qualitätsverbesserungen in ihren geschäftlichen Lebenskreisen gelegen sein; entsprechend gehören sie oft zu den aktivsten Repräsentanten einer modernen Stadtteilsidentität. Doch scheint - so ist zu befürchten - ihre Seßhaftigkeit vor Ort in einer Zeit rascher Geschäfts Wechsel und sich zunehmend ausweitender Laden-„Ketten" mehr und mehr außer Mode zu kommen. Fluktuation gehört zu den modernen Selbstverständlichkeiten: keine allzu gute Voraussetzung für das Bewahren einer Stadtteilsidentität. Was aber meinen wir überhaupt, wenn wir sie uns für Eversten wünschen? Haben wir den Ort dann wirklich als ein Ganzes, in geschlossener, sich mit klaren Grenzen nach außen abhebender Gesamtheit im Sinn? Wir sagen zwar gern „Eversten", denken dabei aber meist nur an unser eigenes, engeres Wohnviertel in Eversten. Eversten ist keine Einheit; mit seinem Namen lassen sich unterschiedliche Erfahrungen des Wohnens, der „natürlichen1', der bebauten, der sozialen Umwelt verbinden. Dem Ort fehlt nun einmal die auf ihn ausstrahlende, integrierende Mitte: das Erbe einer von vornherein ungeordneten Siedlungsentwicklung. Auch die mittlere Hauptstraße entfaltet ja kaum - trotz aller aktuellen Verschönerungen, den Eingangsraum zur Wienstraße einbegriffen - eine ganz Eversten erfassende Integrationskraft. Boshaft ließe sich sagen, das Zentrum von Eversten sei am ehesten zu erleben, wenn man vor einer der Verkehrsampeln im „Überschneidungsbereich von Hauptstraße, Hundsmühler Straße und Autobahn zu warten habe - und da kann nun von Integration wahrlich nicht die Rede sein. Die allgemeine Mobilisierung, die das 20. Jahrhundert durchzog, und das von ihr auch in Oldenburg angefachte Bestreben, „autogerechte" Straßenverhältnisse zu schaffen, haben nicht gerade zusammenfassend, verbindend auf Eversten gewirkt. Sie haben auch hier die freundlicheren, farbigeren Züge des Ortsbildes in Nebenstraßen abgedrängt und dabei graue, trennende Schneisen durch den Ort gezogen - auffälligstes Exempel: die alte „Umgehungsstraße11, der dann die Autobahn folgte. Eversten beiderseits der Autobahn; man könnte gelegentlich auf den Gedanken kommen, hier mit zwei gewissermaßen voneinander abgewandten Ortsteilen, denen nur noch der Name gemeinsam ist, zu tun zu haben.

Der Eindruck täuscht; die Anziehungskraft der Hauptstraße und ihrer Geschäfte reicht durchaus noch nach Westen über die Autobahn hinaus, Und die Autobahn selbst gehört inzwischen zu den Everster Selbstverständlichkeiten - und sei es nur mit ihrem steten, teils näherem, teils entfernterem Rauschen, das offenbar durch keinen „Lärmschutz" aufzuhalten ist und sich an warmen, sommerlichen Abenden über die Stille, den Frieden der Gärten legt, um uns daran zu erinnern, wie wenig unsere Welt auch in Eversten für vollkommene Paradiese geschaffen ist. Doch wenn dann wieder Alltag wird und gefahren werden muß oder wenn wir zum Wochenende Besuch von auswärts erwarten oder selbst weg wollen, dann wissen wir durchaus auch die Nähe des Autobahnanschlusses zu schätzen. Und überhaupt: wer wegen der Autobahn in Eversten mäkeln will, muß dennoch zur Kenntnis nehmen, daß er es hier mit einem beliebten, attraktiven Oldenburger Wohngebiet zu tun habe. Diese Erfahrung saugt fast jeden Autolärm auf - vor allem natürlich, wenn man ihm nicht gar zu nahe wohnt. Vergleicht man das heutige überwiegend positive Urteil über Eversten mit den Wirklichkeiten und dem Ruf des Ortes vor 80 Jahren, dann wird man folgern müssen, daß ihm die Eingemeindung in Oldenburg gut getan habe. Sie hat allerdings auch Oldenburg, auf die Dauer gesehen, nicht geschadet, vielmehr dazu beigetragen, das Ansehen seiner städtischen „Wohnqualität" zu erhöhen, Die Entwicklung seit 1924 hat sicher manche älteren Everster Eigenheiten und Unverwechselbarkeiten verwischt oder ganz aufgehoben. Aber sie hat die Vision des Oberbürgermeisters Theodor Goerlitz von einem Oldenburg des sozial befriedeten, bürgerlichen Wohnens nicht widerlegt.

Das alte Eversten ist derweil, so hat es den Anschein, in einer modernen Erfolgsgeschichte verschwunden. „Dort wohnt man eigentlich nicht": die Zeiten sind nun wirklich vorbei. Doch bleibt es durchaus sinnvoll, gelegentlich an sie zu erinnern - nicht so sehr, um sich dabei selbstgefällig der eigenen Fortschrittshöhe zu rühmen, weit eher, um sich bewußt zu machen, wie sehr alles menschliche Existieren an seine jeweiligen historischen Bedingtheiten gebunden und wie unabdingbar es dem Strom der Veränderungen ausgesetzt bleibt. Er rauscht auch durch unsere Tage. Aber er läßt uns die Freiheit, bewußt und im Bemühen um Identität zu leben. Bewußt leben: das muß sich nicht eben nur auf die Auswahl unserer Salate und Brötchensorten, es darf sich getrost auch auf die aktive Wahrnähme unseres örtlichen Umfeldes beziehen, und da braucht uns dann nichts daran zu hindern, unsere - sicher stets berechtigte - Kritik an ihm mit Dankbarkeit für alle positiven Erfahrungen zu verbinden, die wir ihm doch auch verdanken.

Quelle:

Hans-Günther Zemke (Hg), "Eversten - Oldenburger Ansichten", Verlag Isensee, Oldenburg. ISBN 3-89995-197-2. Heinrich Schmidt, Prof. em. Dr.; Vortrag am 05. Oktober 2004 beim Bürgerverein Oldenburg-Eversten e. V.