geschichte
- Geschichtliche Entwicklung des Stadtteils Eversten -

Die Wohnbebauung macht der Landwirtschaft in Eversten den Garaus - Attraktive Baulandpreise und ein harter Wettbewerb forcieren Höfesterben


Katrin Zempel-Bley

Die Wohnbebauung macht der Landwirtschaft in Eversten den Garaus - Attraktive Baulandpreise und ein harter Wettbewerb forcieren Höfesterben

Großherzog Nikolaus Friedrich Peter verfügte 1897, die Landgemeinde Oldenburg in zwei Gemeinden, nämlich Ohmstede und Eversten, zu teilen. Ohmstede als reichere Gemeinde wurde damals verpflichtet, Eversten 10000 Mark Armenkapital zukommen zu lassen. Tatsächlich lebten in Eversten überproportional viele Arme. Um halbwegs auf die Beine zu kommen, wurden Anfang des Jahrhunderts Genossenschaften gegründet. Das gelang nur, weil die hier ansässigen Bauern die Idee tatkräftig unterstützten. So wurde zunächst 1902 die zweckgebundene Molkerei-Genossenschaft Oldenburg-Eversten, 1903 die Abfuhr-Gesellschaft Eversten, 1910 die Landwirtschaftliche Bezugs- und Absatzgenossenschaft Eversten und ebenfalls auch mit Hilfe der Bauern die Spar- und Darlehnskasse Eversten gegründet, damit das Geld vor Ort blieb. Mit diesen Initiativen war die wirtschaftliche Grundlage für einen einst sehr armen und wenig beliebten Stadtteil gesichert.

Nach dem Ersten Weltkrieg schlugen einige Everstener Gemeinderatsmitglieder vor, mit der Stadt Verhandlungen wegen einer Eingemeindung aufzunehmen. Anlaß dafür war die Gemeinde Osternburg, die den Schritt bereits gegangen war und sich davon vor allem wirtschaftliche Vorteile versprach. Den Bauern gefiel der Vorschlag nicht. Befürchteten sie doch lauter Nachteile für sich. Die Stadtbevölkerung würde nach und nach in die Randbezirke drängen und ihre Arbeit behindern, warnten sie. Ihre Bedenken wurden nicht erhört. 1924 wurde Eversten eingemeindet und geholte von nun an zur Stadt Oldenburg.

Oldenburg hatte 1922 rund 33000 Einwohner und einen Umfang von etwa 1150 Hektar. Die Eingemeindung von Osternburg bescherte ihr rund 12000 zusätzliche Einwohner sowie ein Fläche von über 5000 Hektar. Schließlich kam Eversten mit 5000 Menschen und gut 2400 Hektar dazu. Wie eine Volkszählung 1925 ergab, zählte Oldenburg fortan rund 53000 Einwohner, von denen knapp 27700 erwerbstätig waren. Etwa 2900 (5,5 Prozent) waren in der Land- und Forstwirtschaft tätig, rund 15600 (29,5 Prozent) in der Industrie, im Handwerk und Baugewerbe, 17600 (33,4 Prozent) im Handel und Verkehr. Rund 6000 (10,6 Prozent) waren in der Verwaltung beschäftigt, beim Militär, bei den Kirchen oder als Freiberufler tätig. Rund 1100 (2,1 Prozent) waren im Gesundheitswesen aktiv. Immerhin gut 2300 (4,4 Prozent) Personen gehörten dem Bereich häusliche Dienste an. Eine Volkszählung aus dem Jahr 1933 ergab, daß sich die Beschäftigten in der Land-und Forstwirtschaft in acht Jahren mit über 11 Prozent fast verdoppelt hatten.

Vor 75 Jahren gab es noch zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe in Eversten. Niemand kam ihnen ins Gehege. Die Grenze zwischen Stadt und bäuerlichem Siedlungsraum verlief auf der Höhe Prinzessinweg-Hundmühler Straße-Sodenstich. Doch das änderte sich. Immer mehr Menschen drängten in die Stadt und brauchten Wohnungen. Die Besiedlung rückte näher und näher an die landwirtschaftlich genutzten Flächen, die dringend gebraucht wurden. Schließlich benötigten nach dem Zweiten Weltkrieg rund 40000 Flüchtlinge eine Bleibe. Oldenburg wurde durch die Kriegsfolgen zu einer Großstadt mit fast 108 000 Einwohnern im Jahr 1946.

Der wirtschaftliche Aufschwung der 50er Jahre ging nicht spurlos an Eversten vorüber. Viele Bewohner bevorzugten die damaligen Randgebiete der Stadt und ließen sich mehr und mehr im Stadtteil Eversten nieder, der zunehmend zur bevorzugten Gegend wurde. Der Bedarf an Baugrundstücken stieg. Bisher landwirtschaftlich genutzte Flächen wurden zu Bebauungsgebieten erklärt. Das verlockte viele Bauern zum Verkauf ihrer Ländereien. Lediglich eine Minderheit baute sich mit dem Verkaufserlös eine neue Existenz viel weiter entfernt vom Stadtrand auf. Einer davon ist der Boltes-Hof, der einst an der Edewechter Landstraße/Kaspersweg stand. Seit 1962 ist der Hof ausgesiedelt und liegt mitten im Eversten Moor am Freesenweg.
Martin Boltes erinnert sich noch gut an diese Zeit. „Wir sahen uns damals gezwungen, den Hof zu verkaufen, weil uns die Flächen fehlten. Wo hätten wir noch wirtschaften können? Rund um uns herum entstand Wohnbebauung. Und wer als Landwirt existieren wollte, der brauchte große Flächen." Der 70jährige hat seinen Hof inzwischen an seinen Sohn Dirk weitergegeben. „Ich hatte das große Glück, daß er den Hof übernehmen wollte. So hatte meine Arbeit immer einen Sinn" Martin Boltes erzählt, daß seine Bauernkollegen von damals teilweise auch in die Industrie gegangen sind, weil sie dort mehr verdienen konnten. „Das war schon ein gewaltiger Wandel. 1950 hatten wir hier in Eversten bestimmt noch rund 40 Bauernhöfe. Heute sind es gerade einmal noch sieben."

Die in den 50er Jahren beginnende Industrialisierung der Wirtschaft zeigt bis heute ihre Spuren. Nicht nur, daß Hofe aufgegeben wurden. Die gesamte Arbeit veränderte sich schlagartig. „Ich kann mich noch gut an meinen Vater erinnern, der alles mit der Hand gemacht hat. Das Pflügen mit dem Pferd gehörte ebenso dazu wie das Mähen mit der Sense. Um drei Uhr wurde aufgestanden, das war normal. Heute erledigt ein moderner Mäher in einer halben Stunde die Arbeit, zu der wir früher einen Tag benötigten", erzählt Martin Boltes, der noch den ersten Schlepper vor Augen hat, der 1955 auf dem Boltes-Hof Einzug hielt. Während in der Nachbarschaft nach und nach Höfe aufgegeben wurden, expandierte der Boltes-Hof kontinuierlich. „Wir haben uns um die Ländereien bemüht, um weiterhin wirtschaftlich arbeiten zu können. Der Trend zum großen Betrieb war unverkennbar. Heute sind große Höfe bezüglich der Logistik mit Industriebetrieben vergleichbar", stellt Martin Boltes fest und fragt sich, was der enorme Fortschritt eigentlich gebracht hat.

Er hat keinen verklärten Blick und neigt auch nicht dazu, die alten Zeiten zu idealisieren. „Aber trotz der vielen und schweren Arbeit hatten wir mehr Zeit füreinander", meint er. „Es ging alles sehr viel geruhsamer zu. Und die Kontakte zu den Nachbarn waren intensiv, denn ohne Nachbarschaftshilfe -vor allem zu den Stoßzeiten im Sommer - ging nichts. Andererseits bin ich froh, daß die harte Arbeit heute von Maschinen erledigt wird. Wir haben uns doch alle körperlich ruiniert." Auf dem Boltes-Hof mußten früher alle mit zupacken. Dafür war es geselliger und mitunter idyllischer, findet der Senior. Heute kann Dirk Boltes allein mit seiner Frau den gesamten Hof mit einer Fläche von 84 Hektar allein bewirtschaften. Seine Frau melkt die Kühe, füttert die Kälber und führt den Haushalt, zu dem drei Kinder gehören. Martin Boltes füttert die Bullen und Sohn Dirk kümmert sich um die betriebswirtschaftliche Seite sowie um die Zucht. Denn der Boltes-Hof ist ein anerkannter Zuchtbetrieb. Außerdem muß der 40jährige ständig lernen. „Ich besuche Lehrgänge und Seminare, um auf dem neuesten Stand zu bleiben", erzählt er. Abends liest er oft Fachzeitschriften und denkt über Erneuerungen auf seinem Hof nach, wo der PC längst Einzug gehalten hat. Und zwar nicht nur im Arbeitszimmer, sondern auch im Stall.

„Als wir uns am Tag des offenen Hofes beteiligt haben, besuchten uns überwiegend Städter mit ihren Kindern. Die verstehen dann für einen Moment die Welt nicht mehr, wenn sie erkennen müssen, daß bei uns ein Computer für die Fütterung der Tiere zuständig ist. Natürlich ist der technische Fortschritt nicht an uns vorübergegangen", sagt er und amüsiert sich über die Städter, die auf der Suche nach ländlicher Romantik sind. Dirk Boltes fühlt sich trotz des harten Wettbewerbs, der vielen Erschwernisse durch die EU-Politik und die vor Ort wohl in seinem Beruf. „Ich will nichts anderes sein als Landwirt. Ich bin mein eigener Herr und habe den Kontakt zur Natur. Das ist mir wichtig." Der Ärger mit der Quotenregelung oder den Auflagen durch das stadtische Urnweltamt gehört eben dazu. Sorgen bereitet ihm allein das Image der Landwirtschaft. „Sie können noch so einwandfrei arbeiten und produzieren, wenn ein schwarzes Schaf unter den Landwirten ausgemacht wird, hängen wir alle mit drin", bedauert er. „Die Verbraucher werden immer skeptischer unseren Produkten gegenüber." Friedrich Magnus Kayser wohnt ebenfalls am Freesenweg und übernahm vor 50 Jahren die Landwirtschaft seines Vaters. Der 72jährige, der noch mit seinem Großvater im Alkoven in der Stube geschlafen hat, staunt über die rasante Entwicklung in der Landwirtschaft, die er als revolutionär bezeichnet. Doch ob das alles so gut war, daran zweifelt er. „Die Natur bleibt auf der Strecke, dabei ist sie unwiederbringlich. Die Lerche ist verklungen, die Bachstelze bleibt weg und Krähen, Elstern und Eichelhäher vermehren sich haltlos." Für Friedrich Magnus Kayser sind das Alarmzeichen, die nicht ernst genug genommen werden. „Wir alle haben der Natur und damit auch uns selbst ein Stück Lebensraum genommen." Ob das auf Dauer bekömmlich ist, bezweifelt er. Andererseits unterlag er selbst den Zwängen der Entwicklung. „Wer nicht mitmacht, ist irgendwann nicht mehr konkurrenzfähig. Nicht umsonst hat es ein massenhaftes Höfesterben gegeben, das auch an Eversten nicht spurlos vorübergegangen ist." Was Friedrich Magnus Kayser aber am meisten wundert, ist die enorme Hast und Eile der Nachbarn. „Sie haben zwar Maschinen und Computer, aber trotzdem keine Zeit mehr."

Manches, da sind sich Martin Boltes und Friedrich Magnus Kayser einig, war früher besser. Eines steht aber fest, alles ist relativ. So können sich die Freundinnen und Freunde der drei Boltes-Kinder, die in der Stadt wohnen, keinen schöneren und aufregenderen Spielplatz vorstellen als den Boltes-Hof. „Wenn die Kinder wählen dürfen, dann soll immer bei uns gespielt werden", erzählt Dirk Boltes. „Hier können sie sich frei bewegen, mit den Ponys reiten und im Kreis einer großen Familie essen, was viele Kinder nicht kennen. Außerdem haben sie bei uns immer einen Ansprechpartner. Sie sind nie allein, müssen aber trotzdem nicht dauernd beaufsichtigt werden." Somit ist das Leben auf dem Bauernhof zumindest für Kinder noch mit vielen guten Gefühlen besetzt. Das trifft auch auf Tanja zu. Die 14jährige Tochter von Dirk Boltes will nach der Schule eine landwirtschaftliche Lehre machen, um eines Tages Vaters Hof zu übernehmen. Für Eltern und Großeltern ist das eine große Freude. Auch sie kennt das gute Gefühl, wenn aus einem kleinen Korn Mais wird. Wie ihre Zukunft aussehen wird, darüber können Vater und Großvater nur spekulieren. Auf jeden Fall kommen ihnen die Städter immer näher. Mittlerweile kann man vom Freesenweg aus beobachten, wie die Bebauung langsam fortschreitet. Ob Tanja eines Tages umsiedelt, weil die zugepachteten Flächen möglicherweise von den Pächtern als Bauland gewinnbringend veräußert werden können, ist ungewiß. Wo soll sie dann aber hingehen?

Quelle:

Hans-Günther Zemke (Hg), "Eversten an der Schwelle zum Jahr 2000", Verlag Ernst Knoth, Melle 1999, ISBN 3-88368-310-8. Jürgen Weichardt, Kunstkritiker, Oldenburg