geschichte
- Geschichtliche Entwicklung des Stadtteils Eversten -

Eversten und Europa


Jürgen Weichardt (1999)

Eversten und Europa
Die Texte dieser Schrift „Eversten - 75 Jahre Oldenburger Stadtteil" beschäftigen sich in erster Linie mit historischen Entwicklungen und Erinnerungen, aber in einigen Beiträgen werden die Blicke auch in die Zukunft gerichtet und Wünsche geäußert, die sich wiederum fast ausschließlich auf die hervorragende und zu bewahrende Qualität des Lebens im Stadtteil Eversten beziehen. Es wird von einer Oase gesprochen, nicht zu Unrecht - viele Einwohner auch anderer Stadtteile Oldenburgs dürfen dieses Gefühl haben, ein wenig abgeschirmt von Globalisierung und Größenwahn, von Krieg und Kosovo, von Gewalt und Kriminalität zu leben. Die in der Herzenspresse glaubhaft vertretene Umfrage-These von der ungewöhnlich hohen Lebensqualität Oldenburgs belegt das allgemeine Empfinden, zwischen Eversten Moor und Ohmsteder Esch ein Leben unter besten Bedingungen haben zu können.

Das kommende Jahrhundert wird an den äußeren Umständen zunächst wenig ändern. Aber es bringt unausweichlich den nächsten Schritt der staatlich-gesellschaftlichen Entwicklung: Nach Fürstentum, nationaler Republik nun der europäische Föderalismus. Erstes äußeres Zeichen wird in den nächsten Jahren die Änderung der Währung von DM in EURO sein. Die vorausgegangenen, von allen Bürgern nicht nur in Eversten leicht erlebbaren Wandlungen vom nationalstaatlichen Nebeneinander zum europäischen Miteinander - die Offenheit der Grenzen, die Brüsseler Restriktionen - könnten noch auf der Basis eingeschränkter Unabhängigkeit jedes einzelnen Staates gesehen werden; aber mit demselben Geld in Palermo wie in Helsinki einzukaufen, ist ein extrem festes, freilich auch ganz wertfreies Bindeglied, das Europa nicht nur ökonomisch, auch erlebnismäßig geschlossener machen wird: Krisen belasten nicht mehr nur Regionen, Aufschwünge lassen nicht nationale Wirtschaften, sondern stets ganz Europa erblühen. Nur: Sind wir auf dieses Europa als größere Einheit innerlich vorbereitet? Müßte nicht dadurch die Blickwinkel, mit denen Everstener Eversten sehen, geändert werden?

Tatsächlich ist Europa in Eversten längst Alltag geworden: So selbstverständlich, wie wir französischen Käse und schottischen Whisky, belgische Schokolade und Pizza d'Italia, Gelati, Glace oder Ice bestellen, so selbstverständlich buchen wir unsere Reisen an die Cöte d'Azur oder nach Mallorca, Rimini oder Brighton. Die polnische Bernsteinküste und das tschechische Bier sind als Teile der europäischen Wunschliste schon hinzugekommen, selbst wenn Zloty oder Krone noch nicht durch den EURO ersetzt werden kann. Die Autobahn-Anbindung Everstens führt die Everstener, wenn auch nicht baustellenfrei, bis Grenada oder Budapest.

Aber das sind Äußerlichkeiten. Kann das in den Texten zum Ausdruck kommende Empfinden für „Heimat Eversten" mit der Öffnung nach Europa in Einklang gebracht werden? Für Politiker ist dies die Regel, auch wenn sie nicht von europäischen Gipfel zu europäischen Gipfel mitreisen dürfen. Selbst eine stadtoldenburgische Politik kommt an Cholet und Groningen, Taastrup, Machatschkala und Euregio nicht vorbei, und der Verzicht darauf wäre ökonomische und menschliche Verarmung. Solche Verbindungen werden zwar nicht unendlich weiterwachsen können (dafür fehlt den Menschen schlicht die Zeit), sie können sich auch in der Schwerpunktsetzung verändern, aber sie werden im Prinzip bestehen bleiben und in der Parzellierung sogar vielfältiger und damit reicher werden.

Bei nahezu allen Vereinen gibt es Ansätze, auf der europäischen Ebene Partner zu finden. Gemeinsam singen, gemeinsam trinken und schießen, gemeinsam spielen und Sport treiben - was früher in der Region üblich war, wird im nächsten Jahrhundert auf der europäischen Ebene möglich werden. Die Chroniken der Vereine lassen solche Begegnungen mit europäischen Partnern noch als Besonderheit hervortreten - sie werden Alltag werden. Für die Schulen ist der Kontakt zu anderen Lehreinrichtungen in Europa gleichfalls so natürlich, daß manchmal der Lehrplan deswegen nicht eingehalten werden kann. Für die Fakultäten der Universität ist der internationale Austausch unabdingbar. Und so wird das Studium an einer Hochschule in einem anderen europäischen Land alltäglich; es wird zu einem Qualitätsmesser. Die Carl von Ossietzky-Universität hat mit den französischen Universitäten Le Havre und Brest für den Fachbereich Wirtschafts- und Rechtswissenschaften ein Abkommen über Doppeldiplome geschaffen und damit ein Beispiel gegeben. Eine Ausweitung dieser Europäisierung des Studiums nach England und Italien ist bereits im Gespräch.

Zuweilen könnte in der Digitalisierung des Alltags und in der zeitraubenden Beschäftigung mit den digitalen Möglichkeiten eine Gefahr des Stubenhockern und des oftmals vordergründigen Gedankenaustauschs via Internet befürchtet werden. Unzweifelhaft wird das kommende Jahrhundert auch hier rasante Veränderungen bringen, und am Ende des kommenden Jahrhunderts werden die Computer-Freaks auf die technischen Möglichkeiten unserer Tage staunend herunterschauen, wie wir Oldtimer auf der Straße bewundern, sie aber nicht mehr fahren wollen. Eine Bedrohung der praktisch tätigen Europäisierung, wie sie in Schulen, Hochschulen, Handel und Industrie selbstverständlich sein wird, ist kaum zu erwarten: Letztlich werden auch hier Qualitäten die Menschen unterscheiden; und wer alles kann - computerisiertes Lernen und Lehren an ausländischen Universitäten, Sprachen u PC-Kauderwelsch - wird ein gefragter Mensch sein.

An die Stelle des Wortes „europäisch" ist unversehens wieder das Wort "ausländisch" getreten. Das hat zwei Gründe: Einmal führt die Idylle Eversten zu dem emotional gestimmten „Wir und die anderen", in das auch die aus aller Welt zugewanderten Neu-Everstener mit eingeschlossen sind; und zweitens wird sich im Laufe des kommenden Jahrhunderts, wenn sich denn kein Blockdenken nach George Orwell entwickeln wird, die Öffnung Europas zur Welt - Südamerika, Afrika, Nahost und Ostasien - durchsetzen. „Ausländisch" heißt dann „außereuropäisch". Allerdings werden die fundamentalistischen Kräfte in allen Gesellschaften dagegen den größten Widerstand leisten, womit der wesentliche Unsicherheitsherd der Zukunft genannt ist.

Natürlich gibt es in Eversten im nächsten Jahrhundert genug zu tun. Nicht nur die Bauvorhaben der Stadt Oldenburg in Eversten-West werden für Lärm sorgen auch Ordnungsideen und Bevölkerungswandel, aber sie werden niemanden hindern, die europäische Korrespondenz aufzunehmen. Eine Metro wird es von Eversten nach Oldenburg auch im Jahr 2099 nicht geben. So bleibt es bei der Idylle oder Oase: Beide haben Anziehungskraft; diese zu nutzen, ist die europäische Aufgabe des Stadtteils Eversten. Das ist Blickwinkel ins nächste Jahrhundert.

Quelle:

Hans-Günther Zemke (Hg), "Eversten an der Schwelle zum Jahr 2000", Verlag Ernst Knoth, Melle 1999, ISBN 3-88368-310-8. Jürgen Weichardt, Kunstkritiker, Oldenburg